Dienstag, 13. Mai 2014

Wahre Freundschaft

Vom römischen Philosophen Cicero († 43 v. Chr.) ist der Ausspruch überliefert: „Den wahren Freund erkennt man in der Not.“ Misst man die dramatischen Ereignisse von Ostern um das Jahr 30 n. Chr. daran, müsste man zu dem Schluss kommen, dass Jesus nur einen wahren Freund hatte: den Lieblingsjünger Johannes, der mit der Mutter Jesu und einigen Frauen beim Kreuz stand.

Was an Ostern geschah, ruinierte den Ruf derer, die man bis dahin „Freunde Jesu“ genannt hatte. Nicht nur, dass alle nach der Verhaftung Jesu flohen (vgl. Mk 14,50); einer von ihnen hatte seinen Meister gar für 30 Silberstücke verkauft, ein anderer, der das besondere Vertrauen des Herrn besaß, hatte ihn vor den Dienern im Hof des Hohenpriesters fluchend verleugnet: „Ich kenne den Menschen nicht!“ (vgl. Mt 26,74). Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr, mögen sich die Augenzeugen damals gedacht haben. Schließlich, nach dem Tod Jesu am Kreuz, war es keiner seiner Freunde, sondern einer seiner Henker – ein römischer Hauptmann –, der rief: „Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn!“ (Mk 15,39).

Die Vergeltung

„Wo wart ihr, als ich euch am meisten gebraucht hätte?“ Als Jesus am Abend des Tages, an dem er von den Toten auferstanden war, zu seinen Freunden kam, stellte er diese Frage nicht. Statt eines Vorwurfs begrüßte er die Apostel mit dem Segensgruß: „Friede sei mit euch!“ (Joh 20,19ff). Er verwandelte die Zweifel, Furcht und Depression seiner Jünger in Freude. Der Auferstandene erfüllte damit ein damals etwa 700 Jahre altes Wort des Propheten Jesaja: „Sagt den Verzagten: Habt Mut, fürchtet euch nicht! Seht, hier ist euer Gott! Die Rache Gottes wird kommen und seine Vergeltung; er selbst wird kommen und euch erretten“ (Jes 35,4). Jesus kam selbst, er ließ die Schuldigen nicht links liegen. Seine „Rache und Vergeltung“ bestand darin, seine Liebe zu ihnen zu erneuern. Er kannte sie und ihr Versagen, trotzdem liebte er sie immer noch.

Liebe trägt das Böse nicht nach

Das Kreuz war die Härteprüfung für die Liebe. Gekreuzigte – davon gab es zur Zeit Jesu viele – fluchten, schrien und verwünschten ihre Peiniger. Jesus aber ließ sich durch nichts zum Zorn reizen, sondern reagierte einzig auf jedes Wort und jede Tat der Liebe. Selbst als er im Vorhof des Hohenpriesters mitanhören musste, wie Petrus leugnete, ihn zu kennen, rief er nicht: „Du Feigling! Hast du nicht gestern noch geschworen, mit mir sogar ins Gefängnis zu gehen?“ Vielmehr blickte er Petrus nur an (vgl. Lk 22,61), der daraufhin erschüttert hinausging und voller Reue weinte.
Dieses Verhalten Jesu provoziert die Frage, wie wir, die „Freunde Jesu“ von heute, mit Schuld umgehen – und mit denen, die an uns schuldig wurden. Jesus berief ausgerechnet Petrus, der ihn verleugnet hatte, zum Menschenfischer, auf den er seine Kirche baute (vgl. Mt 16,18). Wir jedoch neigen dazu, mit Menschen, die uns in ähnlicher Weise verletzt haben, nichts mehr zu tun haben zu wollen. Obwohl wir Christen sind und Jesus ähnlich sein wollen, lassen wir die Schuld unserer Mitmenschen nicht los. Monate, Jahre, Jahrzehnte sind vergangen – und immer noch halten wir den Mitmenschen ihre alten Sünden vor. Vielleicht ist das Christentum heute so wenig attraktiv für Außenstehende, weil wir mit den Wölfen heulen und mit dem Finger auf die zeigen, deren Sünden die Presse genüsslich breit tritt, statt den vergebenden Herrn nachzuahmen, dem Vorwürfe fremd sind.
Wir möchten zwar Kinder Gottes sein, schimpfen jedoch so oft über die Fehler unserer Mitmenschen, ohne zu bemerken, dass wir Gott und seine Liebe dadurch mit Füßen treten. Wir versagen so oft, so sehr – wie die Jünger von damals.

Vorbereitung auf Pfingsten

Im „Hohelied der Liebe“ versucht der Apostel Paulus das Wesen der wahren, selbstlosen Liebe zu beschreiben (1 Kor 13,4–8): „Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig. Sie ereifert sich nicht, sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf. Sie handelt nicht ungehörig, sucht nicht ihren Vorteil, lässt sich nicht zum Zorn reizen, trägt das Böse nicht nach (…) Sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand. Die Liebe hört niemals auf.“ Jedes dieser Worte beschreibt exakt, wie Jesus sein Leben lang, besonders aber während seiner Passion, handelte. Doch sie beschreiben ebenso das Leben und Lieben der Mutter Jesu. Menschlich gesprochen hätte sie Anlass gehabt zu sagen: „Ich habe meine Pflicht erfüllt. Herr, lass mich sterben. Was soll ich noch hier auf Erden? Ich will bei Jesus im Paradies sein.“ Wir finden die Mutter Jesu jedoch inmitten der betenden Gemeinde, wo sie einmütig mit den Aposteln, Frauen und Angehörigen um den Heiligen Geist betete. Anstatt sich, traumatisiert vom Miterleben der Passion ihres Sohnes, verletzt und grollend zurückzuziehen, blieb sie den Freunden ihres Sohnes treu und in mütterlicher Liebe verbunden. Die Zeit vor Pfingsten lädt uns jedes Jahr neu ein, uns die Haltung Jesu und Mariens zu eigen zu machen. Legen wir die Fesseln der Unversöhnlichkeit, mit denen wir uns selbst gefangensetzen, am Fuß des Kreuzes nieder! Mit dem Auferstandenen dürfen wir dann allen, denen wir bisher eine alte Schuld nachgetragen haben, zurufen: „Friede sei mit dir!“ Groll, Bitterkeit und Nicht-Vergeben-Können hindern uns daran, vom Heiligen Geist erfüllt zu werden. Bitten wir Maria, die „Braut des Heiligen Geistes“, um ihre Fürsprache bei Gott, damit wir so leben und lieben können, dass die Welt uns als Freunde Gottes erkennt.

Beatrix Zureich

Zuerst erschienen in Maria - Das Zeichen der Zeit, Nr.161 2. Quartal 2014

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