Donnerstag, 8. Mai 2014

Das größere Wunder

Die Grottenzeitung von Lourdes berichtete um das Jahr 1960 von einem Wunder seelischer Art, das sich in einer französischen Stadt zugetragen hat:

Vor einigen Jahren lag in einem Krankenhaus ein Junge von zwölf Jahren, der über und über von Geschwülsten bedeckt war und sich kaum rühren konnte. Trotzdem war er immer fröhlich und dankbar für jeden Liebesdienst. Er hatte nur einen Wunsch: Er wollte nach Lourdes zur Grotte kommen, von der er so viel gehört hatte. Sein Vater jedoch war ein eingefleischter Kommunist, der auch die Mutter stark beeinflusste; er wollte die Reise nach Lourdes nicht erlauben. Weil er sah,
dass seine Weigerung dem kranken Sohn Kummer bereitete, gab er endlich doch nach, aber er verbat sich, dass man ihm von Lourdes Albernheiten erzählte.
Die Mutter reiste mit, denn der Kleine brauchte ständig Betreuung. In Lourdes kam man im Hospital bei der Grotte unter, und eine Krankenpflegerin dort nahm sich der beiden liebevoll an. Am dritten  Tag sagte die Mutter zu der Pflegerin: „Ich habe schon fünfundzwanzig Jahre nicht mehr gebeichtet. Glauben Sie, dass mein Sohn gesund wird, wenn ich die Sakramente empfange?“ Die Pflegerin antwortete, man könne das nicht voraussagen, aber dies sei gewiss, dass Gott ihren guten Willen sicher und reichlich belohnen werde, und zwar in der Weise, wie es für alle am besten ist. Am Tag darauf hatte die Frau gebeichtet und kommuniziert und war restlos glücklich darüber. Nur um eines bat sie: Man möge es ihrem Sohn ja nicht sagen, denn der Arzt hatte erklärt, die geringste Aufregung – auch eine freudige – könne seinen plötzlichen Tod verursachen. Die Pflegerin versprach zu schweigen.
Vor der Abreise der beiden fragte die Pflegerin den Kleinen: „Wie bist du zufrieden mit deiner Reise nach Lourdes?“ Der Junge antwortete: „Ich habe zur Mutter Gottes gesagt, dass mir viel lieber wäre, die Mutter würde sich bekehren, als dass ich selbst gesund würde.“ Und er weinte. Die Pflegerin sprach mit dem Arzt, ob sie den Jungen trösten dürfe mit der Mitteilung, dass die Mutter sich bereits bekehrt habe, und der Arzt erlaubte es. Sie fragte den Knaben: „Kannst du ein großes Geheimnis für dich behalten?“ – „Ja“, sagte er. – „Aber du darfst es auch deiner Mutter nicht sagen.“ Nach einigem Schwanken sagte er: „Ich verspreche es.“ – „Nun schau, mein Kleiner“, sagte die Pflegerin, „deine Mutter ist in Lourdes zur Beichte und Kommunion gegangen.“ Die Pflegerin bekam Angst. Denn aus  dem Knaben leuchtete eine Freude hervor, die ihn zu überwältigen drohte. Man musste an den Himmel denken. Endlich sagte er: „Jetzt kann ich ruhig sterben!“, und versuchte, seine geschwollenen Hände über der Brust zu kreuzen. Obwohl sich sein Zustand von Tag zu Tag verschlechterte, verminderte sich seine Heiterkeit nicht im Geringsten. Er lag in seinem Bettchen wie ein Engel. Er war schon wieder in das heimatliche Krankenhaus gebracht worden, da eröffnete er einer Schwester seinen Wunsch, zu Hause sterben zu können – bei Vater und Mutter. Man brachte ihn sogleich heim, denn es ging mit ihm zu Ende, und schon in der Nacht klingelte das Telefon, dass er zum lieben Gott gegangen sei.
Die Familie wohnte in der „roten“ Vorstadt, und die Pflegeschwester ging hinaus, um zu beten und den Kleinen nochmals zu sehen, der ihr ans Herz gewachsen war. Er lag so schön auf der Bahre, ein überirdisches Lächeln schien sein Gesicht zu umspiegeln. Diese Ruhe strahlte auch das Gesicht der Mutter aus. „Hören Sie“, sagte die Mutter, „es ist ein wahres Wunder geschehen in dieser Nacht. Kaum hatte unser Kleiner seinen letzten Atemzug getan, stand mein Mann auf und sagte zu mir: ‚Ich möchte ihn einmal wiedersehen!‘ Dann zögerte er einen Augenblick, nahm seinen ganzen Mut zusammen und sagte: ‚Bring mich morgen früh zu einem Priester ...‘“ –
Hätte die Mutter Gottes ein größeres Wunder vollbringen können?

Aus "Die schönsten Mariengeschichten" von Karl M. Harrer

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