Dienstag, 10. Juni 2014

Die kleine Araberin

Ein Ausschnitt aus dem Buch "Mirjam - Die kleine Araberin" von Sr. Emmanuel Maillard

Welche Freude, Mirjam von Betlehem zu kennen und sie bekannt zu machen! Für gewöhnlich die kleine Araberin genannt, mit dem Ordensnamen Schwester Maria von Jesus dem Gekreuzigten wurde sie am 13. November 1983 von Papst Johannes Paul II. seliggesprochen. Ihr Leben war ein wahres Epos, eine Geschichte des Sieges vom Licht über die Dunkelheit, vom Licht des Heiligen Geistes über die Übel in dieser Welt. Ein wunderbares helles Licht, wie wir es heute so dringend brauchen.

Mirjam war jung, einfallsreich und originell. Sie ging auf völlig unkonventionellen Wegen, was besonders erstaunlich ist, da sie nie lesen und schreiben gelernt hatte. Sie ist eine Abenteurerin erster Klasse, aber auch eine gute Freundin. Und trotzdem führte sie ein Jahrhundert lang ein Schattendasein. Es bedurfte unseres geliebten Johannes Paul II., um sie aus der Vergessenheit zu holen. Wenn die Kirche sie uns jetzt vor Augen führt, so ist dies vor allem ein Sieg im großen Kampf gegen die Finsternis, eines Kampfes gegen das Vergessen. Dies erinnert uns an Schwester Faustyna Kowalska, die im dritten Jahrtausend als erste Frau heiliggesprochen wurde. Auch sie war zunächst mit ihren Schriften unbeachtet geblieben, bevor Johannes Paul II. sie der ganzen Welt bekannt machte.

Wir müssen dem Leben und der Botschaft von Mirjam große Bedeutung beimessen. Denn nach diesem langen Schattendasein hat das, was jetzt augenfällig wieder zum Vorschein kommt, bereits viele gestärkt und erleuchtet, die um jeden Preis nach der Wahrheit suchen, besonders aber die Jugend. Wir können es als Vorsehung betrachten, dass Mirjam so lange unbekannt geblieben ist, denn dadurch wirkt ihre Botschaft heute um so stärker. Ich spreche hier von einem Sieg, weil Mirjam in ihrem Leben schwere Kämpfe bestehen musste. Vom Himmel erhielt sie wunderbare Gnaden, die sie darin stärkten. Oft musste sie sich mit Satan persönlich auseinandersetzen – in ihren Lehren klärt sie uns deshalb besonders über diesen geistigen Kampf auf.

Eine kleine Anekdote

Während meines Aufenthaltes in Israel erfuhr ich von dieser kleinen Schwester und war sogleich von dem Ausmaß des geistigen Kampfes ergriffen – ja betroffen. Ein Priester aus Betharam, Pater Jeangrand (†), hielt sich im Jahr 1977 ebenfalls in Nazaret auf. Er war Seelsorger im dortigen Karmeliterkloster und besaß ein tiefgehendes Wissen über Mirjam, die er auf rührende Weise verehrte. Wenn man Pater Jeangrand über Mirjam erzählen hörte, so meinte man, direkt mit dem Himmel verbunden zu sein! Mein Herz hüpfte vor Freude. Er lieh mir ein wunderbares Buch über Mirjam, das von ihrem geistlichen Vater, Pfarrer Estrate, geschrieben worden war. Da dieses Buch (auf Französisch) nur schwer zu finden ist, bat er mich: „Schwester Emmanuel, geben Sie gut auf dieses Buch acht. Behandeln Sie es wie Ihren Augapfel!“ Ich versprach ihm, ganz besonders gut darauf aufzupassen.
Auf dem Weg nach Hause hielt ich bei einem Lebensmittelgeschäft an, um etwas Brot für die Gemeinschaft einzukaufen. Als ich zum Auto zurückkam – war das Buch verschwunden!

Die Geschichte von der Schlange

Eines Tages saß Mirjam in der Küche und aß ihren Brei, ganz allein. Auf einmal kroch eine große Schlange langsam auf sie zu, schlängelte sich hinauf auf den Tisch und fing an, aus Mirjams Teller zu fressen. Beim Anblick der Schlange fiel Marjam keineswegs in Panik – höchstwahrscheinlich war sie sich der Gefahr gar nicht bewusst – sie packte sogar den Kopf der Schlange, um ihr zu helfen, tauchte ihn in den Teller und begann, gemeinsam mit der Schlange zu essen. Dann kam die Magd herein ... Sie stieß einen lauten Schrei aus und scheuchte, von panischer Angst ergriffen, die Schlange fort. Mirjam aber blieb äußerst ruhig.
Anhand dieser Episode können wir schon erraten, wie Mirjam in Zukunft ihre Siege über die Mächte der Finsternis erringen wird: durch ihre Unschuld und ihre Reinheit! Satan kann Unschuld nicht ausstehen. Aber Mirjam besaß diese erstklassige Waffe: Durch ihre Unschuld und ihre Demut, durch den Frieden ihrer Seele, die ganz in Gott versunken war, stellte sie sicher, dass der Böse keine Macht über sie hatte. Freilich wird er sich zeigen, er wird Mirjam von Anbeginn an bis zum Ende auf den Fersen sein, um sie anzugreifen und zu versuchen, sie zu Fall zu bringen. Aber dies wird nicht gelingen, weil Mirjam ihre Seele mit Gott vereint hat, in Unschuld und Reinheit.

Mirjams Eheversprechen

Mirjam wuchs heran. Sie war etwa acht Jahre alt, als ihr Onkel Ibillin verließ, um sich mit seiner Familie und Mirjam in Alexandrien niederzulassen. Er war immer sehr nett zu Mirjam und behandelte sie wirklich wie ein Kind seiner Familie. Aber ohne ihr Wissen war Mirjam bereits mit einem Jungen verlobt worden. Solche von den Eltern arrangierte Eheversprechen waren wie in den meisten arabischen Familien der Gegend auch in dieser Familie etwas ganz Normales. Es war im Jahr 1858, als ihr Onkel und ihre Tante diesem kleinen zwölfjährigen Mädchen ankündigten, dass es schon bald einen Jungen, den der Onkel bereits vor mehreren Jahren für es ausgewählt hatte, heiraten sollte.
Man kleidete sie nun in prächtige Kleider, man schenkte ihr Schmuck, frisierte ihre Haare auf elegante Weise – kurz und gut, man machte aus ihr eine strahlende Braut. Mirjam aber erinnerte sich, dass sie mit fünf Jahren ihr Leben dem Herrn geweiht und tief in ihrem Herzen beschlossen hatte, nie jemand anderem zu gehören als Jesus allein. Noch eine Woche bis zum Hochzeitstag, und Mirjam flehte die Jungfrau Maria an, ihr zu Hilfe zu eilen und diesem Heiratsplan ein Ende zu bereiten.
Sie redete mit ihrem Onkel, aber der Onkel blieb sehr bestimmt, er wich nicht von seiner Entscheidung ab. Für ihn war es unbedingt erforderlich, seine verwaiste Nichte zu verheirateten, sie wäre dann gut versorgt. Entsprechend der Mentalität der damaligen Zeit und dem patriarchalischen Gesellschaftssystem war das die einzige Zukunft, die er für sie planen konnte.
Aber die Mutter Gottes wachte über die zukünftige Braut ihres Sohnes. So flüsterte sie ihr in der Nacht eine kleine List ins Ohr, eine klassische List, die man auch im Leben der heiligen Katharina von Siena finden kann. Mirjam verstand sie sofort, und gleich am nächsten Morgen schnitt sie sich ihre schönen langen Haare ab. Denn es war undenkbar, dass ein Orientale eine Frau so ohne Haare heiratet! Das gab es nicht, es wäre eine Schande gewesen!
So brachte Mirjam ihrer Familie, den Gästen und ihrem versprochenen Bräutigam am Hochzeitsmorgen ihre Haare schön geschmückt auf einem Tablett dar. Die List hatte gut funktioniert. Doch ihr Onkel wurde vor Ärger gewalttätig: Er schlug sie, bis sie blutete. Mirjam wird fortan die Spuren dieser brutalen Schläge auf ihrem Körper zurückbehalten. Dann wurde sie aus der Familie verstoßen und fand sich wieder als Sklavin der Sklaven. Denn es traf sich, dass einige schwarze Dienerinnen dem Onkel zu Diensten standen. Nun, diese Dienerinnen bekamen den Auftrag, Mirjam nicht zu schonen und ihr die schwersten Arbeiten zu übertragen.
Für die nächsten drei Monate wird Mirjam diesem Regime von Verfolgungen und Demütigungen ausgesetzt. Gott allein weiß, was sie damals auszuhalten hatte! Aber anstatt zu rebellieren und sich über ihr Schicksal zu beklagen, nimmt Mirjam diese neue Bürde mit großer Freude auf sich, so sehr war sie mit dem Herrn und den himmlischen Mächten vertraut. Und obwohl ihr Leben nach außen hin äußerst hart erscheint, trägt Mirjam den Himmel in ihrem Herzen und bleibt voller Freude inmitten der gröbsten Arbeiten. Sie empfindet eine echte Glückseligkeit und nimmt ihr Schicksal an als eine Gnade. Denn diese harten Arbeiten und diese Prüfung, verstoßen worden zu sein, werden es ihr ermöglichen, ihre Zugehörigkeit zu Gott zu stärken.

Ausschnitt aus dem Buch "Mirjam - Die kleine Araberin" von Sr. Emmanuel Maillard

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen