Montag, 25. August 2014

Die vergessene Familie


„Die Familie ist das Vaterland des Herzens“, sagt ein geflügeltes Wort. Ohne Familie wird unser Herz über kurz oder lang an Heimweh erkranken. Das Heimweh der Herzen nach der Liebe einer Familie scheint heute zu einer Volkskrankheit geworden zu sein. Das Heer der Einsamen wächst, Alleinsein wird zur Epidemie. Selbst wer eine wundervolle Familie hat, ist nicht gefeit vor Zeiten der Einsamkeit. Denn auch die beste Familie kann nicht stets da sein, wenn wir sie brauchen. Trotzdem sind wir nie allein. In jedem Moment sind wir mit der „vergessenen Familie“ verbunden – mit unseren Eltern und Geschwistern in Christus, die uns in die Ewigkeit vorausgegangen sind. Obwohl sie zur „Gemeinschaft der Heiligen“ gehören, denken wir wenig an sie. In Christus aber bilden sie unsere Familie, die Kirche, zu der die auf Erden lebenden Christgläubigen genauso gehören wie die Verstorbenen, die noch in der Läuterung befindlich sind, sowie all jene, die sich bereits in der himmlischen Seligkeit befinden (vgl. KKK 962).

Die Gemeinschaft der Heiligen

Von der seligen Anna Katharina Emmerick († 1824) wissen wir, dass sie als kleines Mädchen oft den hl. Johannes der Täufer in Gestalt eines Kindes sah, der sie begleitete in ihrem Beten und Arbeiten. In neuerer Zeit leuchtet das Beispiel des nordvietnamesischen Bruders Marcel Van auf: Nach der Lektüre der Geschichte einer Seele, dem Tagebuch der hl. Theresia von Lisieux († 1897), bat er Gott um die Gnade, dass diese Heilige ihm auf seinem Lebensweg beistehe. Wie staunte Bruder Marcel, als die hl. Theresia kurz darauf selbst zu ihm zu sprechen begann! Wie eine leibliche Schwester stand sie ihm bei auf seinem Weg zur Heiligkeit, bis er mit nur 31 Jahren im Jahr 1959 in einem kommunistischen Arbeitslager starb (vgl. Bruder Marcel Van – Kurzbiographie).„Selig sind, die nicht sehen, aber doch glauben“ (Joh 20,29), sagte Jesus. Wir haben keine Visionen von den Heiligen, sind aber eingeladen, an die Gemeinschaft der Heiligen zu glauben, unseren Weg im Alltag „an der Hand der Heiligen“ zu gehen, sie kennenzulernen, ihre Biographie zu lesen. Ihr Vorbild kann und will uns Mut, Inspiration und Hilfe schenken auf unserem Weg.
Warum bitten wir die Heiligen nicht häufiger um ihren Beistand? Sie kennen die Versuchungen und Prüfungen des Lebens und warten nur darauf, vor Gott fürbittend für uns einzutreten. Doch nicht nur in Notlagen sind die Heiligen verlässliche Begleiter. Man kann z.B. den Patron der Heimatpfarrei oder des Wohnorts bitten, uns auch im Alltag beizustehen und uns zu inspirieren, wie wir nach seinem Beispiel die Liebe zu Gott und den Mitmenschen leben können, auch wenn es oft nicht leicht ist. Wer sich um Angehörige sorgt, kann deren Namenspatrone um besonderen Schutz für sie bitten. Steht eine schwierige Begegnung bevor, dürfen wir die Namenspatrone beider Parteien einladen, betend „dabei zu sein.“
Wer Kranke pflegt, wird im hl. Bruder Konrad von Parzham eine Stütze finden, und wer Kinder betreut, dem sei der hl. Don Bosco ein Freund und Helfer. Ein Blick zu den Heiligen, die auch in schweren Zeiten Gott und die Menschen liebten, schenkt uns neuen Mut und vertreibt das Selbstmitleid sowie die Einsamkeit.

Erinnerung an die Entschlafenen

Zur „vergessenen Familie“ gehören heute vor allem unsere Verstorbenen: aus den Augen, aus dem Sinn ... Das gilt vor allem für die vor langer Zeit Verstorbenen. Der Katechismus (KKK 958) stellt fest: „Unser Gebet für die Verstorbenen kann nicht nur ihnen selbst helfen: wenn ihnen geholfen ist, kann auch ihre Fürbitte für uns wirksam werden.“ Die Mystikerin Mechthild Thaller-Schönwerth († 1919) bezeugt die Dankbarkeit der Seelen im Fegefeuer, für die sie Gebete und Werke der Sühne aufopferte. Nachdem ihnen dadurch geholfen worden war, wurde die Fürbitte dieser Armen Seelen wirklich „wirksam“: Mechthild bezeugt, dass diese Seelen ihr sogar ganz real bei schwerer Arbeit halfen, die sie allein kaum geschafft hätte. „Die geringste unserer Handlungen wirkt sich, wenn sie aus Liebe geschieht, zum Vorteil aller aus. Dies geschieht in der Solidarität mit allen lebenden und toten Menschen, die auf der Gemeinschaft der Heiligen gründet“ (KKK 953).
Der Alltag bietet jedem von uns zahl reiche Gelegenheiten, diesen Vorteil zugunsten aller Lebenden und Verstorbenen praktisch umzusetzen. Vielleicht strapaziert jemand meine Geduld, dann kann ich z.B. den hl. Franz von Sales durch ein Stoßgebet um seine Sanftmut bitten. Gleichzeitig wird der Vorfall zu einem Gebet, wenn ich Gott bitte, den Seelen im Fegfeuer dadurch eine Gnade zu schenken. Auch alles Frohe können wir mit unserer „vergessenen Familie“ teilen und die Heiligen bitten, unsere Freude wie ein Geschenk vor Gott zu tragen und ihn zu bitten, dadurch einem Leidenden Gnade zu schenken.
„Wer glaubt, ist nie allein!“, sagte Papst Benedikt XVI. Wir sind eingeladen, unsere Bande der Freundschaft zu erneuern, die uns mit den Heiligen und mit den Verstorbenen verknüpfen. Wenn wir weltlich leben, bleibt das Leben flach und eindimensional, weil die Welt uns lehrt, vor allem an uns selbst zu denken. Die Gemeinschaft der Heiligen, zu der wir uns jeden Sonntag im Credo bekennen, macht unser Leben noch reicher, tiefer und dreidimensional, dreifaltig. Deshalb sagt Paulus (Eph 3,17ff): „In der Liebe verwurzelt und auf sie gegründet, sollt ihr zusammen mit allen Heiligen dazu fähig sein, die Länge und Breite, die Höhe und Tiefe zu ermessen und die Liebe Christi zu verstehen, die alle Erkenntnis übersteigt. So werdet ihr mehr und mehr von der ganzen Fülle Gottes erfüllt.“

Beatrix Zureich

Zuerst erschienen in "Maria - das Zeichen der Zeit" (MZZ) Nr. 163

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